Dr. Reiner Spieker, Karlsruhe:
Besprechung des neuen Buches von Uwe Topper
(2016): Das Jahrkreuz. Sprünge im Verlauf der Zeit; Hohenrain, Tübingen
Der rote Faden dieses Werkes wird im Vorwort von Horst Friedrich (†) bezeichnet: Eine Geschichtsschreibung der Geschichtsschreibung vorzulegen, als Zwischenergebnis der bisherigen Bemühungen.
Für das Angebot eines Zwischenergebnisses bin ich dankbar, denn ich befinde mich nun in der dritten Dekade des Kontaktes mit Gedankengut der Chronologiekritik und fühle mich weit davon entfernt, den seit den 1990er Jahren angefangenen Gedankenfäden bis zu ihrem Ursprung nachgegangen zu sein. Wir historisch Interessierten werden uns sicher in unseren individuellen Erlebnissen mit den Ausstellungsstücken des historischen Museums, das wir ja letztlich jeder getrennt vom anderen in diesen langen Zeiträumen besichtigen, durchaus unterscheiden, und so würde ein Zwischenergebnis auch die verschiedenen Einschätzungen der gemeinsam betrachteten Schaustücke zusammenführen. Damit hatte ich den vom Autor ins Auge gefassten Zeithorizont jedoch weit unterschätzt.
Um sein Zwischenergebnis zu erzielen, führt der Autor zunächst das übergreifende Zeichen des Jahrkreuzes ein, er wählt aus der Geschichte der Astronomie zentral die Beschäftigung mit Präzession und Kalenderverschiebung. Außerdem erweitert der Autor unsere Museums-Besuchergruppe um Teilnehmer aus den Jahrhunderten vor uns, die mit ihren eigenen Erfahrungen zu Wort kommen. Dabei ordnet der Autor die hinzukommende Fülle an altem Beobachtungsmaterial zwischen die aktuellen Schaustücke nach Art einer Verbindungsmasse ein, ohne die Gesamtschau des Jahrkreuzes zu verlieren.
Auf diese Weise erzeugt der Autor ein Kompendium mit einer derartigen Materialfülle alter und neuer Beobachtungszeugnisse, insbesondere zu Überlieferung und Erinnerung von Kalendersprüngen, dass man für jede einzelne Seite einen gesonderten Ausblick auf die daraus folgenden Zusammenhänge und Fragestellungen geben könnte, was den Rahmen einer Buchbesprechung natürlich sprengen würde. Ich möchte den geneigten Leser daher nur auf einen Schwerpunkt mit für mich persönlich besonderen Überraschungen hinweisen:
Der Autor fragt sich in Betrachtung der von Nikolaus von Kues (Cusanus) gesammelten Argumente zur Kalenderreform, wessen Gelächter die katholische Kirche um 1430 wegen des fehllaufenden Kalenders eigentlich fürchtete. In unserer Vorstellung überzieht ja ihre christliche Großinfrastruktur von romanischen und gotischen Riesenbauten das Abendland. Die Universitäten in Paris und Toulouse widerlegen im Staatsauftrag jede Abweichung; Papst und Kaiser haben Jan Hus gemeinsam verbrannt. Die Osmanen sind nach der Niederlage gegen Timur geschwächt, die Ungarn Hunyadis halten sie auf. Wer ist also dieser von Cusanus gefürchtete, ungenannte Spötter? Ein Ferneinfluss der persischen Schüler Ulugh Begs auf Kopernikus wird erwogen. Es steht Cusanus ein Heidentum im Abendland selbst entgegen, zelebrierend in den heute Kirchen genannten Kultbauten, wobei die Heiden und das Volk als Mehrheit einen anderen Kalender als die christliche Minderheit pflegen, womöglich unter persisch-zoroastrischen Kultureinfluss zu geraten drohen, so erwägt der Autor.
Die unerwarteten Untiefen in der in unserer Vorstellung gut beurkundeten frühen Neuzeit führt der Autor fort um die Festlegung der Jahreszahl 1500 bei Karl V., verewigt in Dürers „AD 15xx“- Signaturen. Die problematische Datierung von deutschen Bibeldrucken vor Luther tritt hinzu. Wird die Chronologie der ausgelöschten präkolumbianischen Hochkulturen gleichfalls von den Konquistadoren christlich angepasst? Der Autor überprüft kritisch eine Vielzahl astronomischer Überlieferungen der Babylonier, Ägypter, Mayas, Chinesen und Araber bis zu Alfons dem Weisen (oder verbirgt sich hinter diesem ein Alfons von Cordoba Hispalensis, Informant des Kopernikus?). Immer wieder endet die Spurensuche bei gedruckten Büchern, so auch die zum Almagest und zum De die natali, im Zeitalter der Computistik Scaligers. Die Ereignisse zwischen 1400 und 1600 werden damit selbst zum Objekt der kritischen Untersuchung, denn wenn die Methodik der Computisten verschleiert worden ist, trübt dies den Blick auf alles Vorherige, womit eine Fälschungsaktion der nächsten die Hand reicht. Allein vom Erkenntnisfortgang her wird der suspekte Ptolemäus nun direkt vor Kopernikus denkbar. Als Indikator für computistische Spielereien empfiehlt der Autor den Nachweis von Jahrzahl-Spiegelungen, z.B. 284 v. Chr. Ära des Astronomen Dionysios zur Thronbesteigung des Ptolemäus II. Philadelphus / 284 n. Chr. Ära des Diokletian, sowie 222 v. Chr. Tod von Ptolemäus III. Euergetes, Pharao des Kanopus-Dekrets / 222 n. Chr. Ostertafel des Hippolyt und alexandrinische Epoche des Alexander Severus; und von 311 v. Chr. (Start der seleukidischen Ära) bis 222 n. Chr. erhält man mit der Differenzzahl 532 wieder einen Dionysius, Exiguus (532 n. Chr.). Ich erlaube mir im Sinne des Autors zu ergänzen: 622 v. Chr. der Hohepriester des Königs Josia findet im Tempel ein Buch / 622 n. Chr. Ära Mohammeds, der ein Buch empfangen hat. Der Autor findet die notorische 622 nochmals als Differenzzahl zwischen Konzilien von Toledo 701 und 1324, die dort die Konzil-freie Zeit begrenzen.
Der Autor bietet mir wie in seinen Werken zuvor eine willkommene Horizonterweiterung auf Spezialgebieten der historischen Astronomie, wobei er das übergeordnete Ziel der Zwischenbilanz der Jahrhunderte nicht aus den Augen verliert. Trotz der schwerwiegenden Materie ist der Schreibstil des Autors unterhaltsam und leicht, wodurch die Aufmerksamkeit erhalten bleibt. In Veröffentlichungen, die mir bereits bekannt waren, wurde ich durch den Autor auf wichtige Textstellen hingewiesen.
Ein seltsamer Eindruck bleibt mir zum Schluss: Es waren viel mehr kritische Berichterstatter in den vergangenen Jahrhunderten im astronomisch-historischen Museum zu Besuch als gedacht, doch sie alle blieben mit ihren Einschätzungen ungehört, die Korrektur unseres Chronologiegerüstes ist trotz eines Zeitalters der Aufklärung ausgefallen.
Dr. Reiner Spieker, Karlsruhe 1. Februar 2017
Eine Besprechung des Buches durch Dr. Peter Winzeler erschien kürzlich hier
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